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Die Zuschauer schauen erwartungsvoll zu dem Mann in der Mitte der Wettkampffläche. Er hebt das Mikrofon, es wird laut auf den Rängen. „3… 2… 1…“, dann hallt aus 4500 Kehlen ein infernalisches „Goooo!“. Zehn junge Männer, alle vom Körperbau scheinbar einem Fitnessmagazin entsprungen, sprinten zu ihren Klimmzugstangen. Sie springen hoch, greifen die Stange, holen Schwung und reißen explosiv die Beine nach oben um mit den Zehen die Stange zwischen ihren Händen zu berühren. „Toes to bar“ nennt sich diese anstrengende, in Deutschland eher unbekannte Eigengewichtsübung. Acht Wiederholungen müssen die Athleten am Stück absolvieren, um dann nahtlos, also ohne die Stange loszulassen, in die zweite Übung überzugehen, den sogenannten „muscle up“, eine Kombination aus Klimmzug, Umgreifen und abschließendem Dip über der Stange. Vier Stück dieser noch schwierigeren Turnübung sind gefordert. Erst danach dürfen die Athleten die Stange loslassen, bevor sie die nächste Runde angehen. Insgesamt fünf Mal muss die Kombination aus acht Toes to bar und vier muscle ups absolviert werden, das Ganze auf Zeit, nach 8 Minuten wird abgepfiffen. Ein Kampfrichter pro Athlet überwacht Anzahl und Ausführung. Jedes Mal, wenn ein Wettkämpfer vor der Vollendung der zwölf Wiederholungen von der Stange abgeht, muss er zur Strafe nach der Runde ans andere Ende der Wettkampffläche sprinten und 250m auf einem Fahrradergometer zurücklegen.
Es ist das erste von insgesamt sechs Events an diesem Wochenende beim German Throwdown, der inoffiziellen, offenen Deutschen Meisterschaft im Crossfit. 280 Athletinnen und Athleten zwischen 15 und 51 Jahren aus ganz Europa treten an diesem Wochenende in der Halle 45 in Mainz in unterschiedlichen Leistungs- und Altersklassen gegeneinander an, um die oder den Fittesten unter ihnen zu küren. Crossfit ist eine der am schnellsten wachsenden Sportarten im Fitnessbereich. Jedes Crossfit – Workout besteht aus einem, aber meist mehreren Elementen aus drei verschiedenen Bereichen. Klassischer Ausdauersport (Laufen, Radfahren, Schwimmen, Rudern, Seilspringen) kombiniert mit Eigengewichts- bzw. Turnübungen (Kniebeuge, (Handstand-) Liegestütze, Klimmzüge, Seilklettern, Handstandlauf und ähnliches) und Übungen mit der Kurz- oder Langhantel (Kreuzheben, Reißen, Umsetzen und Ausstoßen). Crossfitter sind so etwas wie die Zehnkämpfer unter den Fitnesssportlern und müssen leistungstechnisch extrem breit aufgestellt sein. Der Sport kommt, wie so vieles in diesem Bereich, aus den USA. Beliebt ist er vor allem da, wo in kurzer Zeit überdurchschnittliche Trainingsergebnisse erzielt werden müssen, unter anderem bei Feuerwehren, Streitkräften und Spezialeinheiten der Polizei. Aber auch Profisportler und -teams aus aller Welt nutzen mittlerweile die hochgradig anstrengenden Crossfitübungen. 15000 sogenannte „Boxen“, wie Crossfitter ihre Trainingshalle nennen, gibt es mittlerweile weltweit.
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In Mainz kann man an diesem Wochenende Crossfit in Perfektion erleben. Scheinbar mühelos kicken die Athleten immer wieder ihre Füße nach oben und wuchten ihre muskulösen Körper über die Stange. Einer der zehn jungen Männer ist Patrick Treiber (25) aus Rohrbach. Als einer von nur 40 Männern hat er sich für das Finale des German Throwdown qualifiziert und tritt in der offenen und international stark besetzten, höchsten Klasse der „Elite Male“ an. Es ist sein erster Wettkampf als Einzelathlet, bisher ist er immer nur im Team angetreten.
Er ist sehr schnell in dieses Event gestartet, beide Übungen gehören zu seinen Stärken. Doch das Wettkampfwochenende ist für ihn noch keine zwei Minuten alt, da geht Treiber zum Entsetzen seiner mitgereisten Unterstützer von der Stange ab und begutachtet seine rechte Hand. Es ist das passiert, was jeder Crossfit – Wettkämpfer fürchtet, trotz Handschutz hat er sich beim Umgreifen an der rauhen Klimmzugstange einen Fetzen Haut in der Größe einer 2 Euro Münze aus der rechten Handfläche gerissen. Für jeden Hobbyathleten wäre an dieser Stelle Feierabend, nicht so für Patrick Treiber. Nach wenigen Sekunden springt der Rohrbacher wieder hoch an die Stange und ist nach exakt 06:58 Minuten fertig mit seinen fünf Runden und insgesamt 40 toes to bar und 20 muscle ups. Doch die Handverletzung hat ihren Tribut gefordert, in den folgenden Runden muss er mindestens einmal von der Stange abgehen, daher hat er nebenbei zur Strafe noch drei Sprints und 750m auf dem Ergometer abreißen müssen. Seine Zeit reicht am Ende lediglich für Platz 34. Damit sind alle Hoffnungen auf einen der vorderen Plätze bereits nach nicht einmal 7 Minuten begraben.
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Im direkt anschließenden Lauf startet Adrian Mundwiler (27). Der Schweizer ist Crossfit – Vollprofi, einer der absoluten Superstars im deutschsprachigen Raum und sicher der mit Abstand stärkste Konkurrent. Er wird sein Workout in unter 3 Minuten beenden und nicht einmal aufbrechen müssen. Am Ende des Wochenendes hat er fünf der insgesamt sechs Einzelevents für sich entscheiden können und seinen Titel aus dem vergangenen Jahr erfolgreich verteidigt. Während alle anderen Athleten, inklusive Patrick Treiber, zum Beispiel nach Event 3, von den Veranstaltern treffend „Death Race“ genannt, jeweils 5 Runden 15 Kalorien auf dem Assault Bike (eine diabolische Mischung aus Crosstrainer und Ergometer mit einem speziellen Luftwiederstandssystem) und 10 „burpees“ (der Athlet schmeißt sich mit der Brust auf den Boden, drückt sich im Liegestütz hoch und macht abschließend einen Strecksprung) nach maximal 7 Minuten bei einer Herzfrequenz jenseits der 180 auf dem Boden liegen und nach Luft ringen, steht er schon bei seinen meist weiblichen Fans und posiert für Fotos. Treiber holt hier mit Rang 19 seine beste Platzierung des Wochenendes und bleibt nur gut 20 Sekunden hinter dem Profi. Der trainiert, ermöglicht durch Sponsorenverträge mit Herstellern von Sportbekleidung und Nahrungsergänzungsmitteln, zwischen 50 und 60 Stunden die Woche. Bei den Crossfit Games 2019 in den USA, den Weltmeisterschaften, wurde er dieses Jahr offiziell zum achtfittesten Mann der Welt gekürt.
Patrick Treiber kommt lediglich auf einen Bruchteil der Trainingsstunden. In der Vergangenheit hat er es trotz Vollzeitjob geschafft, wenigsten in den heißen Phasen der Wettkampfvorbereitung um die 15 Stunden die Woche zu trainieren, in den vergangenen Wochen waren gerade mal fünf. Trotzdem ist die Crossfit – Karriere des 25-jährigen Sinsheimers exemplarisch. Angefangen hat er als Jugendlicher klassisch mit Fußball und Tennis. Seine Liebe zum Fitnesssport entdeckte er bei einem Praktikum in einem Fitnessstudio. Treiber studiert Fitnessökonomie und macht seinen Master Trainer für Fitness. Er arbeitet erfolgreich als Personaltrainer und seit einigen Jahren auch als Crossfit – Coach. Doch er weiß, dass er in einem gewöhnlichen Fitnessstudio keine optimalen Trainingsbedingungen für seine Kunden schaffen kann. Als im kleinen Industriegebiet in Rohrbach die Halle einer ehemaligen Werkstatt frei wird, ergreift er die Chance und erfüllt sich mit seiner eigenen Box 2018 einen Lebenstraum. Seitdem trainieren er und sein Team in acht Kursen am Tag die Mitglieder dort in Kleingruppen. Die Atmosphäre ist familiär. Alles ist schlicht und funktional gehalten, keine Spiegel oder Maschinen, dafür Gewichte, Seile, Sandsäcke, Ruderergometer und auch die von allen so verhassten Assault Bikes findet man hier. Doch auch wenn nahezu optimale Trainingsbedingungen herrschen, kann der Wettkampfathlet sie nur viel zu selten nutzen. Als Jungunternehmer gibt er fast alle Kurse selbst, kümmert sich um die Mitgliederverwaltung, die Box-Organisation, Promotion und vieles mehr. Unterstützt wird er in allen Bereichen von seiner Lebensgefährtin Luca, selbst auch Crossfit-Coach. Doch neben der Tätigkeit als Trainer und Unternehmer und parallel zur Wettkampfvorbereitung auf den German Throwdown stemmen beide gerade die Renovierung ihrer neuen Wohnung und die Organisation des anstehenden Umzugs.
All das will er aber nicht als Ausrede gelten lassen. Alleine, dass er sich in der Qualifikation für das Finale gegen hunderte Konkurrenten durchgesetzt hat, betrachtet er in seiner derzeitigen Situation als großen Erfolg. Doch den Rückstand aus dem ersten Event kann er an diesem Wochenende nicht mehr aufholen. Mit einer notdürftig versorgten Hand kämpft er sich durch Event 2, ein Workout bei dem die Teilnehmer in einem zehnminütigen Zeitfenster so oft wie möglich 50 Seilsprünge mit Doppeldurchschlag und einem 1,5kg! Sprungseil, dann 10 statische Klimmzüge und anschließend 10 Mal Überkopfdrücken mit der 43kg Hantel bewältigen müssen. Treiber wird mit 270 Wiederholungen, also fast vier Runden, guter 22., der Schweizer Mundwiler entscheidet mit über 370 Wiederholungen auch dieses Event für sich.
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Am Ende des ersten Wettkampftages liegt der Mann aus Sinsheim auf Rang 32. Er weiß, nach dem ersten Workout am Sonntag morgen, Event 4 ( 4 Runden: 700m Rennen, 14 mal einarmiges, abwechselndes Reißen mit der 30kg Kurzhantel, gefolgt von 21 Kniebeugen bei denen die Kurzhantel mit ausgestrecktem Arm über dem Kopf gehalten werden muss, das Ganze in maximal 21 Minuten) wird das Feld auf 20 Athleten zusammen gestrichen. Er gibt noch einmal alles, quält sich unter den frenetischen Schreien des guten Dutzend mitgereister Fans, hauptsächlich Mitglieder seiner Box, Freunde und Familie, nach 20:10 Minuten als 24. ins Ziel. Gereicht hat es zum Weiterkommen nicht, er verbessert sich um einen Rang und wird an diesem Wochenende 31.. Damit darf er bei Event 5 nicht mehr antreten. Die 20 besten Männer dürfen nacheinander in jeweils drei Versuchen ermitteln, was sie mit der klassischen Langhantel umsetzen und ausstoßen können. Adrian Mundwiler schafft mit 155kg auch hier den Bestwert des Tages. Treibers persönliche Bestmarke liegt bei 140 Kilogramm, das hätte zu Platz 4 gereicht. Aber beim Crossfit kommt es auf reine Kraft oder pure Ausdauer alleine nicht an, man muss in Allem gut sein, komme was wolle.
Zufrieden ist er mit seinem Abschneiden beim German Throwdown nicht, mit seiner Leistung aber schon. Für ihn sind derzeit andere Dinge wichtiger, sagt er. Die Prioritäten lägen ganz klar beim Ausbau der Box und der Weiterentwicklung seiner Mitglieder, das nehme aktuell die meiste Zeit in Anspruch. Jeder von ihnen habe unterschiedliche Ziele und Intentionen, warum sie bei ihm trainierten. Manche wollten abnehmen, andere fitter oder stärker werden, manche einfach nur besser für die Herausforderungen des Alltags gewappnet sein. In den Kursen, „Class“ genannt, machen zwar alle das gleiche Workout, doch immer individuell auf den jeweiligen Leistungsstand und das persönliche Ziel ausgerichtet. Treiber nimmt sich Zeit für jeden, schreibt auch mal individuelle Trainingspläne oder gibt ausführliche Ernährungstipps. Für ihn sei Crossfit mehr als nur eine Trainingsmethode oder ein Sport, sondern eher ganzheitlicher Ansatz für ein fitteres und letztendlich gesünderes Leben.
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Trotzdem will er weiterhin so oft und gut wie möglich auch Wettkampfathlet sein. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Gerade laufen die Crossfit Open, die offene Qualifikation für die Crossfit Games 2020 und, mit weltweit mehr als 415000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern in 2018, sicher einer der größten Sportwettkämpfe der Welt. Patrick Treiber liegt nach vier von fünf Workouts, die über fünf Wochen ausgetragen werden, deutschlandweit auf Rang 38. Sein Ziel ist es, sich nach Platz 72 im letzten Jahr in die Top 50 in Deutschland vor zu kämpfen. Die Chancen stehen also nicht schlecht. Eigentlich. Das fünfte und entscheidende Workout muss er am Montag, also nur einen Tag nach dem German Throwdown bestreiten. Es stehen an, 40 muscle ups an den Ringen, 80 Kalorien auf dem Ruderergometer und 120 sogenannte „wall ball shots“ (Kniebeuge mit einem 9kg schweren Medizinball, beim Aufstehen wirft man diesen hoch gegen ein auf ca. 3 m Höhe befestigtes Ziel an der Wand und fängt ihn wieder in der Kniebeuge), das Ganze wieder auf Zeit. Der Ablauf und die Wiederholungen dürfen beliebig aufgeteilt werden. Den aktuellen Rekord hält mit 10:56 Minuten ein gewisser Richard Froning Jr. (32), Amerikaner, seines Zeichens viermaliger Gewinner der Crossfit Games. Patrick Treiber wiederum hat diese Martyrium noch vor sich. Auf die Frage, ob er denn nach einem ganzen Wettkampfwochenende zuversichtlich ist, die kaputte Hand hält und er sich fit genug fühlt für diese Herausforderung, antwortet er: „Ich konnte mich ja den ganzen Sonntag Nachmittag ausruhen.“ und lächelt.
Quelle: Daniel Hülden